(Kiel) An der Entscheidung des Landgerichts Berlin in seinem Urteil vom 27. Februar 2017 (Az. 535 Ks 8/16), dass die beiden Angeklagten Hamdi H. und Marvin N. mit bedingtem Tötungsvorsatz handelten und deswegen als Mörder zu bestrafen waren, bestehen erhebliche Bedenken.
Der Moerser Fachanwalt für Straf- und Verkehrsrecht Bertil Jakobson, Vizepräsident des DSV Deutscher Strafverteidiger Verband e. V., Worms äußert hierzu seine persönliche Auffassung, die sicherlich nicht geteiltes Echo finden wird.
„Das Gericht hat beiden Angeklagten unterstellt, gewusst zu haben, was ihr Verhalten für Auswirkungen für andere Verkehrsteilnehmer haben könnte und dass sie diese möglichen Folgen bewusst billigend in Kauf genommen haben, d.h., den Tod Dritter billigend in Kauf nahmen.
Die aus der Presseerklärung verlautbarten Inhalte des Urteils überzeugen aus gleich mehreren Gründen nicht. In einer Fallkonstellation wie der vorliegenden bedarf die Begründung des subjektiven Tatbestandes, also u.a. des Vorsatzes der beiden Angeklagten, einer sehr differenzierten und einzelfallbezogenen Begründung unter besonderer Berücksichtigung psychologischer Erkenntnisse. Einer der renommiertesten Psychologen aller Zeiten, Paul Watzlawick, wies schon vor geraumer Zeit darauf hin, dass sich das Innerpsychische sich objektiv nicht feststellen lässt und wir uns deshalb mit Vermutungen und Rückschlüssen begnügen müssen, die meist von geringer Verlässlichkeit sind. Hierzu im Einzelnen wie folgt:
• Erstens sind härtere Strafen ein ungeeignetes Mittel zur Einstellungsänderung von Menschen
Die Verurteilung von Hamdi H. und Marvin N. wegen Mordes mit der Folge lebenslanger Freiheitsstrafe wird, entgegen der Auffassung von vielen Diskutanten, keine abschreckende Wirkung entfalten. Die kriminologische und sozialpsychologische Forschung hat in diesem Kontext keinen Zusammenhang zwischen der Härte einer Strafe und Rückgang der Straftaten bestätigen können. Härtere Strafen haben keinen Einfluss auf die Rückfallwahrscheinlichkeit. Als extremstes Beispiel mag hier die Vollstreckung der Todesstrafe dienen in Ländern, in denen eine solche Strafe z.B. bei Drogendelikten oder Tötungsdelikten vollstreckt wird. Denn die Vollstreckung dieser Strafe zeigt gerade, dass sie nicht abschreckend wirkt(e). Nichtsdestotrotz besteht ein verbreiteter Irrglauben von der abschreckenden Wirkung harter Strafen, der auch vorliegend die Entscheidungsfindung des LG Berlin mutmaßlich stark prägte. Hinzu tritt, dass hohe Strafen nicht dazu führen, dass sich andere Raser verstärkt an Tempolimits halten. In aller Regel führen solche Sanktionen allenfalls dazu, dass sich der betreffende Raser ängstlich bemüht, sich nicht erwischen zu lassen. Sozialpsychologen sprechen in diesem Kontext von der sog. externen Rechtfertigung, die keine nachhaltigen Verhaltens- und Einstellungsänderungen bewirkt.
In diesem Zusammenhang darf auch nicht außer Acht gelassen werden, dass die Anzahl tödlicher Verkehrsunfälle bei erforderlicher langfristiger Betrachtung in den Jahren 2006 bis 2016 stark rückläufig ist, um ca. 40 %. Es gibt keine Entwicklung zum Negativen hin, die mittels höherer Strafen bekämpft werden müsste. Das ist statistische Gewissheit.
Die Unwirksamkeit hoher Strafen hängt auch mit einem kognitionspsychologischen Phänomen zusammen, das als Regression zum Mittelwert Bekanntheit erlangte. Richterliche Sanktionen erfolgen zeitlich versetzt als hoheitliche Reaktion auf zuvor erfolgtes menschliches Fehlverhalten durch den schuldigen Bürger. Das Verhalten des Beschuldigten hatte sich also zuvor einem extrem schlechten Wert angenähert, im Beispielsfalle also besonders schnelles innerstädtisches Fahren anlässlich eines spontanen Rennens. Ohne den Unfall wären die beiden Angeklagten sicherlich wieder deutlich langsamer gefahren. Jedes Rennen endet irgendwann. Trotzdem neigen viele Richter dazu, irrig anzunehmen, dass ihr Urteil eine Verhaltensbesserung beim Angeklagten herbeiführen wird. Das ist ein Denkfehler. Denn das Verhalten des Angeklagten hatte sich ohnehin schon längst wieder normalisiert, also dem Normalverhalten angenähert, was die Regression zum Mittelwert bedeutet. Jeder Mensch hat in allen Lebenslagen mal „Ausreißer“ nach oben oder unten, regressiert aber auf längere Sicht betrachtet stets zum Normalwert in Bezug auf ein Verhalten wie Auto fahren, berufliche Aktivitäten oder Sport. Das bedeutet, auf besonders gute wie besonders schlechte sportliche, berufliche und private Leistungen folgt langfristig immer ein Trend zurück zum Normalwert. Die Nichtbeachtung der Regression zum Mittelwert kann dazu führen, dass Gerichte sich bei der Strafzumessung intensiver als fallbezogen angemessen wäre, sich von generalpräventiven Überlegungen vereinnahmen zu lassen.
Vereinfacht ausgedrückt: Harte Strafen wie die lebenslange Freiheitsstrafe sind in einer Beweiskonstellation wie der vorliegenden kein geeignetes Mittel zur nachhaltigen Einstellungs- und Verhaltensänderung beim Angeklagten in der Folgezeit. Wenn die Auffassung des LG Berlin zutreffend wäre, müssten beispielsweise in einem Jahr die Anzahl tödlicher Verkehrsunfälle in Berlin deutlich zurückgegangen sein. Dies wird nicht geschehen. Und selbst wenn dies der Fall sein sollte, käme eine Vielzahl von realistischen alternativen Ursachen für den deutlichen Rückgang in Betracht, zum Beispiel ein Fahrverbot für bestimmte Fahrzeugtypen in der Innenstadt o.ä. Hier müsste berücksichtigt werden, dass Korrelation nicht dasselbe wie Kausalität ist.
Letztlich wird auch die zum Teil reißerische und wenig faktenbezogene Berichterstattung über tödliche Verkehrsunfälle selbst wieder zum Mittelwert regressieren. Informationen, über die ständig berichtet wird, erscheinen uns wahrscheinlicher, als sie tatsächlich sind. Dies wird psychologisch als Verfügbarkeitsheuristik bezeichnet. Infolgedessen hat sich anscheinend ein Irrglaube landauf und –ab etabliert, dass die auf Raserverhalten zurückzuführen Unfälle zugenommen haben. Auch dies ist nicht der Fall.
• Zweitens sind Raserunfälle „nur“ Fahrlässigkeits- und keine Vorsatzdelikte.
In diesem Zusammenhang führten die Angeklagten laut dem LG Berlin „schwere und PS-starke Gefährte“ im Straßenverkehr. Die Autos waren anscheinend für die eigene Lebensführung der Angeklagten von (allein) entscheidender Bedeutung. Der Besitzer eines solchen Gefährtes, in welches in aller Regel viel Zeit und Geld zuvor investiert worden ist, will sein Auto bei einem Unfall nicht total verschrotten. Es ist eine typische Erscheinungsform menschlichen Sozialverhaltens, sich von gefühltem oder realem Besitz von materiellen Dingen wie z.B. Autos, Häuser, Lebensabschnittsgefährten, Haustieren etc. nicht trennen zu wollen: Auch schon ein Baby zeigt eine starke motorische Unruhe, wenn man ihm ein Kuscheltier wegnimmt, welches es feste an sich gedrückt hält. Für einen erwachsenen Menschen gilt nichts anderes: Dieser will „sein“ Auto nicht anlässlich eines Unfalles wirtschaftlich verlieren. Sozialpsychologen wissen in diesem Kontext seit langem um die empirisch gesicherte Erkenntnis, dass Menschen den Gedanken an den Verlust von lieb gewonnen Dingen nicht ertragen können. Das macht es in der Konsequenz einem Besitzer eines „schweren und PS-starken Gefährts“ psychologisch unmöglich, sich bei Verkehrsteilnahme vorstellen zu können, dass es zu einem schlimmen Unfall kommen könnte. Die Begründung des Vorsatzes durch das LG Berlin verstößt gegen gesicherte sozial- und kognitionspsychologische Erkenntnisse.
In diesem Zusammenhang bewirkt insbesondere das Phänomen der Selbstüberschätzung Fehlwahrnehmungen der Realität mit der Folge allein fahrlässiger Delinquenz: Fahrer wie z.B. Hamdi H. und Marvin N. vertrauen infolge Selbstüberschätzung darauf, ihr Fahrzeug noch sicher beherrschen zu können – und zwar auch bei hohen Geschwindigkeiten. Nicht wenige Männer neigen, anders als Frauen, gerade in Lebensbereichen mit maskuliner Konturierung wie Börsenhandel, Vermögensverwaltung, Sport und Auto fahren zu Selbstüberschätzung mit der Folge eines mitunter ausgeprägten risikoaffinen Verhaltens über einen maladaptiv langen Zeitraum. Selbstüberschätzung macht es der betroffenen Person typischerweise unmöglich sich vorzustellen, dass trotz erkannter abstrakter Gefährlichkeit eines Verhaltens es zum konkreten Ernstfall kommen könnte. So wie im vorliegenden Einzelfall geschehen. Menschen sind blind für ihre Selbstüberschätzung und auch blind für ihre Blindheit in anderen Lebensbereichen.
Was ebenfalls vom LG Berlin außer Acht gelassen wurde, ist die psychologische Gewissheit, dass die individuelle Risikoattitüde eines Menschen intrapersonal heterogen ausgeprägt ist. Jeder Mensch zeigt unterschiedliches Risikoverhalten in verschiedenen Lebensbereichen wie Freizeit, Beruf, Gesundheit oder Sport. Es drängt sich der Eindruck auf, dass das LG Berlin sich von den zweifelsfrei äußerst dramatischen Folgen des Unfalles vereinnahmen ließ, um die inneren Absichten der beiden Angeklagten zu beurteilen. Die vorhersagbare Tendenz von Entscheidern wie z.B. einem Strafrichter, die Vorhersagbarkeit eines Ereignisses retrospektiv zu überschätzen, wird als Rückschaufehler bezeichnet. Vereinfacht ausgedrückt: Je schlimmer die bekannten Folgen sind, desto negativer wird das Verhalten beurteilt, das zu den bekannten Folgen führte. Gedächtnispsychologisch führt dieser Umstand dazu, dass die Vergangenheit falsch rekonstruiert wird, damit sie mit dem konsistent ist, was in der Gegenwart positiv bekannt ist. Im Ergebnis kann dieser psychologische Mechanismus dazu führen, dass Entscheider wie zum Beispiel ein Richter annehmen, der Angeklagte hätte es zum Zeitpunkt der Tatbegehung „besser wissen können und müssen“. Hierbei handelt es sich um eine vorhersagbare irrationale Entscheidung in Form einer kognitiven Selbsttäuschung. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass der Rückschaufehler das LG Berlin gar zur irrigen Annahme eines gemeingefährlichen Tatmittels verleitete.
Was uns direkt zum nächsten Punkt geleitet:
• Drittens befinden wir uns nicht im Krieg mit Rasern
Es ist im höchsten Maße irritierend, dass das LG Berlin für den Unfallort, an dem ein Mensch verstarb, den Begriff „Schlachtfeld“ auswählte. Dieser verstörende Begriff „Schlachtfeld“ kovariiert alleine mit der Kriegssprache. Schlachten werden gewonnen oder verloren und stellen die vielleicht extremste Form menschlicher Auseinandersetzung mit zerstörerischen Mitteln dar. Autofahren hingegen, wozu letztlich auch das „Rasen“ gehört, ist aber keine kriegerische Handlung, die begriffsnotwendig nur vorsätzlich ausgeführt werden kann. Autofahren dient in aller Regel nur dazu, von einem Punkt A zu einem Punkt B zu gelangen. Der am Unfallort verstorbene Fahrer des Jeep ist deswegen auch nicht ein Verlust infolge einer kriegerischen Handlung in einer Schlacht. Er war zur falschen Zeit am falschen Ort. Und zwar an einem Unfall-Ort, und keinem „Schlachtfeld“ eines Krieges. Er ist ein Opfer fahrlässigen Fehlverhaltens. Aber sicherlich eines zu viel.
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